Ralph Heidenreich Schönfeldstraße 2 88400 Biberach Germany
home fotos texte email

Anpassung, Langeweile und Schizophrenie

Wild 1997
Wohin treibt die Jugend? Was wird aus der Welt? Probleme noch und nöcher, doch im Zentrum aller Ungewissheit jene Frage, deren klassischen Ausdruck der Herr Doktor der Jurisprudenz, Heinz Haage, im Jahr des Herrn 1994 zu formulieren wusste, nämlich "ob der Mensch an sich zum Guten (zur Konformität) oder zum Bösen (zur Abweichung) neigt."(1)

Seit 1989, dem Jahr des SIEGES, ist es den Menschen erneut und wiederholt geoffenbart worden: der Weg zum Erfolg ist der Weg der Anpassung.
Wenn dein Priester sagt: "Glaube diesen Glauben!", so glaube diesen Glauben.
Wenn deine Lehrerin dir aufgibt: "Übe diese Übung zehn mal!", so übe diese Übung zehn mal.
Wenn dein Chef dir befiehlt: "Arbeite diese Arbeit hundert mal!", so arbeite diese Arbeit hundert mal. Dann wirst du gerecht beurteilt und belohnt werden, und dein Leben wird mittelschön sein in Ordnung und Sicherheit.

Willst du aber mehr als der Durchschnitt, so mußt du dich auch mehr bemühen. Gehe hin zu deinem Priester und sage: "Ich liebe diesen Glauben, o Herr, was kann ich für ihn tun?". Und übe die Übung, die deine Lehrerin dir aufgab so lange, bis du die schönste und perfekteste Übung geübt hast in der ganzen Klasse, dann gehe hin zu deiner Lehrerin, zeige sie ihr und sage: "Ich habe diese Übung geübt, Frau Lehrerin, darf ich nun noch eine Übung üben?"
Die Arbeit, die dein Chef dir aufgab, die arbeite schnell und genau und beim nächsten Mal noch schneller und noch genauer, und wenn du die Arbeit schneller und genauer als alle deine Kollegen kannst, so gehe hin zu deinem Chef und sage :
"Ich habe die Arbeit gearbeitet, o Chef, darf ich noch eine weitere Arbeit arbeiten?".

Erfolg durch Gehorsam

Bei alledem aber vergiß nie, du willst dich nach oben arbeiten, du willst so werden wie die, die über dir stehen. Also präge dir ihre Haltungen ein, lerne die Nuancen ihrer Sprache zu verstehen, ja, ihre Gedanken zu erraten und ihre Wünsche zu erkennen, bevor sie ausgesprochen sind, und befolge sie getreulich.
Wenn du studieren darfst, so studiere nicht nur, tritt auch in eine schlagende Verbindung ein, damit du denen nahe bist, die deine Vorbilder sind. Dann wirst du reich belohnt und befördert werden, du wirst Erfolg haben und Karriere machen, und am Ende eines erfüllten Lebens wirst du denen, zu deren Antlitz du immer emporgeschaut hast, gegenüberstehen und zu ihnen sagen:
"Brüder, ich bin einer der Euren!" und sie werden dir antworten: "Bruder, du bist einer von uns."

Was aber geschieht den Uneinsichtigen, denen, die nie mit "Jawohl Meister" antworten, sondern mit "ja aber" ? Die, sei es aus mangelnder Weitsicht oder aus Unverstand, aus Trotz, Stolz oder kindischer Sturheit, unfähig zum Gehorsam, in der Schule schlafen und die Hausaufgaben abschreiben, im Gottesdienst fehlen und auf der Arbeitsstelle faulenzen?
Weder Ermahnungen noch Bestrafen scheint an ihrem schlechten Charakter etwas ändern zu können. Wenn man solche Jugendliche fragt, was ihnen fehle, so erklären sie zumeist, es sei ihnen langweilig. Sie finden ihr Leben so langweilig, daß ihnen das Rauchen eines Joints als prickelndes Freizeitvergnügen erscheint und das abendliche Fernsehprogramm nach einem halben Gramm Kokain erst erträglich.
Aber was heißt denn Langeweile? Haben diese Leute ihre Übungen geübt? Haben sie ihr Zimmer aufgeräumt und die Strasse gekehrt, Geschirr gespült und das Unkraut gejätet? Nein. Also könnten sie doch ihre Arbeit tun und es müsste ihnen kein bißchen langweilig sein. Sie wollen aber lieber Drogen nehmen und über Gott und die Welt philosophieren und vor allem darüber, wie man letztere verbessern könne.

Die Welt verbessern, das scheint ein lobenswertes Ziel, aber gehört sie ihnen denn? Nein, ihnen gehört nicht einmal das allerklitzekleinste Stückchen von der Welt. Aber sie wollen sie verbessern, die Welt, die anderen gehört, sie wollen die ganze Welt ihren rechtmäßigen Besitzern entreißen, vor lauter Langeweile das schrecklichste Sakrileg begehen, das Heiligste der freien Marktwirtschaft vernichten, das Recht auf EIGENTUM. Und doch können solche Langeweiler dies schrecklichste aller Verbrechen, die Revolution, gar nicht ausführen, denn weder sind sie in der Lage, sich in größeren Gruppen mit einem festen Ziel zusammenzuschließen, noch bringen sie die Energie auf für politische Agitation und Propaganda. Die frevelnde Ungeheuerlichkeit ihrer kriminellen Phantasie kontrastiert so auf das merkwürdigste mit der Mickrigkeit ihrer Taten.

Langeweile ist eine Krankheit

Wie kranke Tiere verkriechen sich die Gelangweilten in dunklen Ecken, um dort ihre Drogen zu nehmen und ihre depressive "Musik" zu hören, auf einen Sozialarbeiter zu warten, der irgendwann einmal dort vorbeikommt, um mit ihnen Streetball zu spielen oder Skateboard zu fahren.
Langeweile ist, so weißes das psychologische Wöterbuch von F.Dorsch, "eine "innere, in der Person liegende ’Reizarmut’, die insbesondere mit geringer Erlebnisfähigkeit und Erlebnistiefe einhergeht". Und, wie wir im vorigen Absatz gesehen haben, mit tiefgehenden Störungen des logischen Denkvermögens, mit Drogenkonsum und Antriebslosigkeit.

1911 schon hat der berühmte Psychiater Bleuler die negativen Symptome der Schizophrenie zusammengefasst, als da wären: Alogie, der Verlust des Gedankenflusses, Affektverflachung, der Verlust von Emotion und Ausdruckskraft, Entschlußlosigkeit, der Verlust von Entschlußkraft und Antrieb, Anhedonie, die Lustlosigkeit, sowie verminderte Aufmerksamkeit, kurz, alle Anzeichen der Langeweile. Dazu kommen beim Schizophrenen noch Halluzinationen, Wahnvorstellungen, und Störungen im Sozialverhalten. Letzteres mag den herumlungernden Gestalten, Punks, Grufts, ect. ohne weiteres unterstellt sein, und wenn wir einen Blick auf ihre Drogen werfen, was finden wir da?
Haschisch, Extasy, LSD, alles Halluzinogene! Wenn wir den Texten ihrer Musik zuhören, finden wir Wahnideen anstelle von heiteren Versen, und sehen wir sie in den seltenen Phasen der Aktivität, so schmieren sie ihre Wünsche, illegale Parolen des hellen Wahnsinns, an Hauswände, die ihnen nicht gehören. Das alles lässt nur einen Schluss zu: diese armen Kinder sind nicht verantwortlich für das, was sie tun, sie sind KRANK, ihre Schmierereien, ihr Aufzug, ihre Musik, ja, die ganze sogenannte Jugendkultur ist ein einziger Schrei um Hilfe, der uns nur eines sagen will: Helft uns, lasst uns wieder normal, brav und angepasst sein, ordentlich und geachtet, damit wir eine Zukunft haben, errettet uns aus dem Verderben !

noch ist Heilung nicht in Sicht

Doch da ist guter Rat teuer und ärztliche Hilfe auch. Zwar gibt es mit den Neuroleptika wie etwa Haldol bewährte Medikamente gegen das schizophrene Irresein, doch diese Medizin wirkt bei verschiedenen Patienten stark unterschiedlich und verursacht zum Teil heftige Nebenwirkungen. Zu Recht zögert die Psychiatrie, solche Mittel bei einfacher Langeweile einzusetzen.
Zudem ist selbst das Wesen der Schizophrenie in medizinischen Kreisen noch immer umstritten, es gibt weiterhin Stimmen aus dem Umfeld der Psychoanalyse, die die Welt mit lauter Sexualität anfüllen und die Ordnung selbst für krankhaft erklären wollen. So schreiben etwa Deleuze/Guattari:
"In Wahrheit ist die Sexualität überall: darin, wie ein Bürokrat seine Akten streichelt, wie ein Richter Recht spricht, wie ein Geschäftsmann Geld fließen lässt, wie die Bourgeoisie dem Proletariat in den Arsch fickt..."(2) und stellen fest, daß
"zwei große Typen gesellschaftlicher Besetzung .. existieren; ein faschisierender paranoischer Typ oder Pol, der die Formation der zentralen Herrschaft besetzt,..-ja, ich bin einer der Euren und gehöre der höheren Klasse und Rasse an. Und ein schizo-revolutionärer Pol, der den Fluchtlinien des Wunsches folgt, durch die Mauer bricht ..und in allem umgekehrt zu Werke geht als der erste Typ: Ich bin keiner der Euren, ich bin auf immer von niederer Rasse..."(3).

Aber solcherlei Ansichten sollten in der Biberacher Jugendarbeit eigentlich keine Chance haben, und so wollen wir auf den medizinischen Fortschritt hoffen, die Gentechnik und das Zusammenwirken von Psychiatrie und Universität, auf ein modernes Medikament gegen die Langeweile, so daß in hoffentlich naher Zukunft niemand mehr dagegen sein und ja-aber sagen muß sondern wir alle freudig unseren Glauben glauben, unsere Übungen üben und unsere Arbeiten arbeiten, kurz, daß der Mensch zum Guten, zur Konformität sich neige.

1. Haage,Heinz: Theorien der sozialen Kontrolle ..., Frankfurt 1995,S.16;
2. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Anti-Ödipus, Frankfurt 1977, S.377
3. dort, S. 357 f.